Ausschreibung zum Thema "Leserausch Cocktail" des Leuchwort-Verlags.

Old Opera und Blushing Rose

Der Kommissar betritt den kleinen Raum. Er trägt einen sauberen, kantigen Anzug.

"Hier finde ich Sie". Der Kommissar lächelt höflich und nickt.

Der Tenor wirkt für einen Moment irritiert, dann nickt er zurück. "Ich räume noch auf."

"Ich wusste nicht, dass Opern eine Bar haben."

Der Tenor steht hinter dem Tresen, trocknet ein hohes Glas ab und stellt es schließlich zurück in einen offenen Schrank. Er ist muskulös und trägt noch Teile seiner bunten Bühnenkleidung.

"Sicher nicht alle Opern. Aber diese. Es ist auch eigentlich keine Bar, sondern es war ..."

"... eine Garderobe. Da sind noch die Spiegel."

Der Tenor faltet das Handtuch und legt es auf den Tresen.

"Richtig. Es war eine Garderobe. Was wollen Sie?"

Der Kommissar setzt sich auf einen der Hocker.

"Ich bin wegen der Toten hier."

„Polizei? Ich habe doch schon..."

"Nein, nein. Ich bin nicht von der Polizei. Nicht wirklich, nicht mehr."

Der Tenor scheint es nicht zu mögen, wenn man ihn unterbricht.

"Warum sind Sie dann hier?"

"Sagen wir, ich helfe manchmal noch der Polizei. Ich sehe Dinge, die andere nicht sehen."

Der Tenor lacht zum ersten Mal: "Wunderbar, ein cleverer Ex-Kommissar im Ruhestand. Sollten Sie da nicht dreckiger sein?"

"Dreckiger?"

"Sehen nicht alle Polizisten im Ruhestand dreckig aus, in alten Trenchcoats, mit verbeulten Hüten und einem Atem, der nach Whiskey stinkt?"

Jetzt lacht auch der Kommissar: "Vielleicht, aber sicher nicht alle Ex-Kommissare."

Der Tenor fährt sich ungeduldig durch die gepuderten Haare: "Und Sie wollen mit mir sprechen?"

"Sie sind der einzige, der noch hier ist, nicht wahr?"

Der Tenor nickt und der Kommissar lächelt: "Welche Oper wurde heute Abend gegeben?"

"Don Carlos. Von Verdi. Aber das wissen Sie doch sicher längst."

"Sollte ich?"

"Sie stellen Fragen, deren Antwort Sie bereits kennen."

Der Kommissar klopft begeistert auf die Bar: "Sie haben völlig recht. Ich habe die Oper ja selbst gesehen, erst vor wenigen Wochen. Sie waren großartig als Don Carlos. Ganz großartig."

"Danke."

"Ebenso wie der Sänger des Rodrigo. Man sagt, sein Bariton sei einer der wunderbarsten weit und breit."

Jetzt plötzlich lächelt der Tenor.

"Ohne Frage. Gibt es viele Polizisten, die sich mit Opern auskennen?"

"Ich weiß nicht. Vermutlich mehr als es Opern mit einer Bar gibt."

Der Kommissar holt einen zerknitterten Zettel hervor: "Also der Mord heute."

"Ein Zettel? Kein Notizbuch?"

Der Kommissar grinst jetzt doch müde: "Nein, ich schmeiße alles weg, wenn ein Fall vorbei ist. Also ..." Er holt tief Luft: "...eine junge Frau wurde offensichtlich ermordet. Nach der Aufführung. Vergiftet. Hier in der Bar."

Der Tenor wischt mit einem feuchten Tuch über den Tresen: "Ist das eine Frage?"

Ohne aufzuschauen schüttelt der Kommissar den Kopf: "Nein, nein. Es waren viele Leute hier, aber vor allem die junge Frau, der Bariton und Sie."

Er schaut auf und lächelt: "Die Frage ist: Stimmt es, dass Sie tatsächlich den beiden Cocktails gemixt haben?"

Der Tenor verstaut das Putztuch.

"Ja, das stimmt."

"Und natürlich wissen Sie, dass Sie damit sehr verdächtig sind und natürlich wissen Sie aber auch, dass die Polizei wiederum weiß, dass Sie keinerlei Motiv haben und nur deshalb sind Sie überhaupt noch auf freiem Fuß.“

„Auf freiem Fuß? Sagen Sie so etwas bei der Polizei wirklich?“

Der Kommissar ignoriert die Frage: „Sie haben die Frau zuvor nie gesehen, richtig?"

Der Tenor seufzt: "Ja, das ist alles richtig. Was wollen Sie?"

"Können Sie mir die beiden Cocktails mixen?"

Der Tenor tritt einen Schritt zurück. „Die Cocktails? Jetzt?“

„Ganz recht. Können Sie?“

„Sicher, ich …“

„Was waren es für Cocktails?“

„Ein Old Opera für die Frau und …“

„Wie passend…“

„Also gut.“ Der Tenor dreht sich um, greift nach dem schimmernden Cocktailmixer, holt Gin und Rum hervor und füllt sie vorsichtig hinein.

Der Kommissar faltet seinen Zettel zusammen. „Erzählen Sie mir etwas von sich, dem Bariton und der Frau.“

„Was gibt es da zu erzählen? Ich kann das Wasser nicht finden.“

„Dort hinter Ihnen.“

„Danke.“

„Sie kannten die Frau nicht, kannten Sie den Bariton?“

Der Tenor misst das Wasser ab.

„Natürlich. Wir singen schon seit einigen Jahren zusammen. Was spielt das für eine Rolle?“

Er bückt sich und holt eine dünne Flasche Zuckersirup hervor.

„Ich weiß es nicht. Diesmal wirklich nicht“, der Kommissar lacht, während der Tenor den Sirup in den Mixer füllt.

„Wir haben gemeinsam studiert, aber wir kannten uns damals nicht. Ich habe ihn nur gesehen. Aber ihn nie angesprochen.“

Der Kommissar nickt nur stumm.

„Ich brauche ein Ei. Dort neben Ihnen ist ein kleiner Kühlschrank.“

Der Kommissar dreht sich um: „Sollte der nicht hinter dem Tresen stehen?“ Er kramt ein Ei hervor und reicht es dem Tenor. „Aber es war ja mal eine Garderobe. Warum können Sie Cocktails mixen?“

Der Tenor ist von dem plötzlichen Themenwechsel nicht irritiert, sondern seufzt nur: "Als ich jung war, wollte ich Barkeeper werden. In meiner eigenen Bar."

"Warum sind Sie es nicht geworden?"

Der Tenor lehnt sich über den Tresen und flüstert: "Ich war als Sänger einfach zu gut." Er grinst bitter.

Der Kommissar lächelt nur mitfühlend.

Der Tenor sucht etwas.

„Die Zitrone liegt dort drüben“, der Kommissar zeigt auf einen kleinen Beistelltisch.

„Danke“, der Tenor greift nach der Zitrone, schneidet sie auf und misst umständlich etwas Saft ab.

„Wie ging es weiter?“

„Weiter?“

„Mit Ihnen, dem Bariton und der Frau.“

„Ich traf ihn hier am Opernhaus wieder. Das war vor … 3 Jahren, glaube ich. Wollen Sie sich das nicht auf Ihren Zettel schreiben?“ Er schließt den Mixer und schüttelt ihn rhythmisch auf und ab.

„Nein, nein, was ich selbst höre, kann ich mir schon merken. Hätten Sie das Sodawasser nicht erst am Ende hinzufügen dürfen?“

Der Tenor kneift die Augen zusammen: „Es war ein langer Tag. Entschuldigen Sie, wenn ich den Old Opera nicht …“

„Kein Problem. Sangen Sie oft zusammen?“

Der Tenor öffnet den Mixer und füllte den rotschaumigen Drink in ein hohes Glas und stellt es auf den Tresen.

„Hin und wieder. Wir sind festangestellt hier am Opernhaus. Wollen Sie den Old Opera nicht trinken?“

Der Kommissar hebt nur die Hand: „Vielleicht später. Stimmt es, dass ein Bariton immer im Schatten des Tenors steht? Der Tenor spielt den Helden, der Bariton immer nur seinen Freund. War er eifersüchtig auf Sie?“

Die Augen des Tenors weiten sich. Er atmet tief ein. „Nein, niemals. Das würde er nie, er war immer …“

„Der zweite Cocktail.“

„Was?“

„Der Old Opera für die Frau. Der Cocktail für den Bariton, Ihren Freund. Bitte.“

Der Tenor zuckt kurz, dann nickt er.

„Also gut, auch wenn ich nicht weiß, was das alles soll.“

Er spült den Mixer aus.

„Trafen Sie den Bariton auch nach den Aufführungen? Oh, Granatapfelsaft, das ist exotisch.“

Der Tenor seufzt müde, als er den Saft in den Mixer füllt.

„Sicher, das ganze Ensemble trifft sich hin und wieder nach den Aufführungen.“

„Auch Sie und der Bariton allein?“

Der Tenor hat einen Schrank hinter sich geöffnet und studiert die Etikette.

„Ja, ja, sicher, auch wir beide, aber warum ist das wichtig? Der Bariton ist doch nicht ermordet worden. Wo ist nur ...“

Dann nimmt er eine kleine Flasche mit Rosennektar.

„Nein, er ist nicht ermordet worden. Oh, Rosennektar, es wird immer exotischer. Wie kommt eine kleine Bar in einer Oper an Rosennektar?“

„Ich habe ihn mitgebracht.“

„Sie haben da noch etwas Make-up am Ohr.“

Der Tenor fährt ruckartig mit der Hand an sein Ohr.

„Stimmt es, dass man beim Theater immer sehr viel Make-up benutzt, damit es auf die lange Distanz zum Publikum überhaupt eine Wirkung hat?“

Der Tenor wirkt erschöpft und schaut auf die weiße Farbe an seinen Fingern.

„Ja, nein, also manchmal schon, es kommt auf das Stück an.“

„Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich sage, dass ich es bei der Inszenierung etwas viel fand. Also das Make-up. Gerade bei der Rolle des Rodrigo, beim Bariton.“ Der Kommissar lacht kurz: „Ich dachte mir: Wer sein Gesicht so vollschmiert, der hat wohl eher eine hässliche Fratze zu verbergen.“

Der Tenor schlägt mit der kleinen Flasche Rosennektar auf den Tresen.

„Was erzählen Sie da für einen Unsinn? Wie können Sie von einer Fratze reden, er …“

Der Kommissar hebt abwehrend die Hände: „Entschuldigen Sie. Ich wusste nicht, dass …“

„Lassen Sie es. Es hat nichts mit dem schrecklichen Mord hier zu tun.“

Der Kommissar hält nachdenklich den Kopf schief: „Richtig. Der Mord. Der schreckliche Mord. Darum sind wir hier.“

Sie schweigen einen Moment, während der Tenor den Rosennektar abmisst und in den Mixer füllt.

Der Kommissar studiert noch einmal seinen Zettel: „Kannten sich der Bariton und die Frau?“

Der Tenor nickt nur und stellt die kleine Flasche mit Nektar zur Seite.

„Kannten die beiden sich gut?“

„Vielleicht. Ich weiß nicht.“

„Sprachen Sie nie über die Frau?“

Der Tenor kniet sich hinab und öffnet eine Schranktür unter dem Tresen.

„Nein“, hört der Kommissar nur dumpf von unten.

„Ich glaube, die beiden waren ein Paar, nicht wahr?“

Der Tenor richtet sich wieder auf und hat eine Flasche Likör in der Hand.

„Ja, ich glaube so war es.“

Der Kommissar nickt und verstaut den Zettel erneut in seiner Anzugtasche. Dann klatscht er wieder in die Hände: „Ty Ku Likör, diese Bar ist ganz ausgezeichnet.“

Der Tenor misst etwas Likör ab, schüttelt den Mixer und füllt die rote Flüssigkeit in ein weiteres Glas.

Der Kommissar schaut nachdenklich zwischen den beiden Cocktails hin und her.

Der Tenor spült den Cocktailmixer aus.

„Sind wir jetzt fertig? Ich würde gerne gehen.“

„Einen Moment noch. Das waren die beiden Cocktails, die Sie dem Bariton und der Frau gemixt haben?“

„Ganz recht.“

Der Kommissar atmetet tief ein und aus, dann blickt er den Tenor mit ernstem Blick an.

„Ich sollte Ihnen sagen, dass der Bariton von der Polizei abgeführt worden ist.“

Der Tenor hält sich am Tresen fest: „Warum … aber er …“

„Er hatte ein Motiv. Die Frau war seine Geliebte. Er hatte sicher unzählige Möglichkeiten, etwas in den Cocktail der guten Dame zu geben.“

„Nein, nein, nein, er hätte doch niemals …“

Wieder nickt der Kommissar und erhebt sich mühsam von seinem Hocker.

„Nein, hätte er wohl nicht. Wir beide wissen es besser, nicht wahr?“

Der Blick des Tenors springt nervös zwischen den Cocktails und dem Kommissar hin und her.

„Ich weiß nicht, was …“

„Ich verrate Ihnen noch ein Geheimnis. Wollen Sie wissen, was ich jetzt mit meiner Zeit anstelle? Also wenn ich nicht gerade der Polizei bei seltsamen Verbrechen helfe?“

Der Tenor antwortet nicht.

„Sie werden gleich lachen: Ich mixe Cocktails. In einer Bar. In meiner eigenen, kleinen Bar.“

Der Tenor schweigt.

„Und ich kenne diese Cocktails. Den Old Opera. Der wird nicht oft bestellt, obwohl er ganz vorzüglich ist.“

Der Kommissar nimmt einen Schluck und wischt sich den Mund ab.

„Gar nicht schlecht, aber das Wasser war wirklich zu früh.“

Er nimmt den zweiten Cocktail in die Hand: „Und der Cocktail für den guten Bariton ist ohne jede Frage ein Blushing Rose.“ Er trinkt einen Schluck und sein Züge hellen sich auf: „Ganz hervorragend. Vorzüglich. Großartig.“

Der Tenor starrt nur mit weiten Augen auf das bizarre Schauspiel.

„Aber wir beide wissen natürlich, dass es nur einen Empfänger für einen romantischen Cocktail wie den Blushing Rose geben kann, nicht wahr?“

Der Kommissar schaut zurück und es ist völlig still.

„Ist er wirklich bei der Polizei?“ Er flüstert nur noch.

„Nein.“

„Nein. Natürlich nicht.“

Auch der Kommissar spricht jetzt nur noch leise: „Aber wir sollten nun dorthin gehen.“

Der Tenor nickt.

 

 

Vorhang.

Über mich    Impressum