Ausschreibung zum Thema "Helfersyndrom". Leider hatte ich übersehen, dass es nur 10.000 Zeichen sein dürfen. Also habe ich es gekürzt. Diese ursprüngliche Version hier ist aber besser.

Gott hat ein Helfersyndrom

Gott hat ein Helfersyndrom.

Zumindest bei mir.

Zumindest seitdem meine Eltern in dieser verdammten Tankstelle verbrannt sind.

 

 

„Ich hätte nicht gedacht, dass Gott tatsächlich wie ein alter Mann mit Bart aussieht.“

„Das ist nur deine Einbildung.“

„Aha.“

Gott sitzt neben mir auf dieser dreckigen Plastikbank, direkt am Rand der verdammten Tankstelle. Sein heller Bart ist ziemlich zerzaust, die dünnen Haare stecken unter einer bunten Stoffmütze und die blaue Latzhose wird man auch kaum in religiösen Bildern oder biblischen Texten finden.

Warum soll ich mir so etwas einbilden?

Er blickt sich suchend um. Als ob es hier etwas zu sehen gäbe.

„Warum nur bist du hierhin gekommen?“

Ich lache müde: „Sollte Gott nicht alles wissen?“

„Nein.“

Vermutlich weiß ich es selbst nicht, oder?

„Also warum?“

„Keine Ahnung.“

„Das ist eine Lüge.“

Offenbar weiß ich es doch selbst?

„Also weiß Gott doch alles?“

„Manchmal.“

Keine Ahnung, was er damit meint und ich habe auch keine Lust zu fragen.

Wir betrachten eine Weile die Tankstelle. Die Autos, die an die Zapfsäulen fahren, die Menschen, die aussteigen, tanken, gelangweilt warten, in das kleine quadratische Gebäude schlendern und irgendwann wieder herauskommen.

Gott scheint es nicht eilig zu haben. Er sitzt einfach da und grinst dieses ewig zufriedene Lächeln.

„Warum bist DU hierhin gekommen? Hat Gott nichts Besseres zu tun?“

„Es ist einfach richtig.“

„Richtig? Das ist alles? Einfach richtig?“

„Ja.“

Eine attraktive Blondine steigt aus einem kleinen, roten Auto.

„Wer hätte gedacht, dass sie hier tatsächlich wieder eine Tankstelle hinbauen würden? Und wer hätte gedacht, dass ich ausgerechnet hier auf den lieben Gott treffen würde?“

Lieber Gott...ja klar.

 

 

Es regnete immer noch.

Ich schaute aus dem Fenster des Taxis und betrachtete die Wassertropfen. Ich überlegte, welche Worte diese Tropfen am besten beschreiben würden: Wurden sie vom Fahrtwind getrieben? Blies er sie über das Glas? Das klang nicht gut. Oder? Ich wusste es nicht und es ärgerte mich, dass ich es nicht wusste. Ich ballte frustriert die Hände zu Fäusten und hoffte, dass der dicke Taxifahrer meine alberne Wut nicht sehen konnte.

Wie liefen die Tropfen über die Fensterscheibe?

Vermutlich war es Zufall, aber genau in diesem Moment drehte der Fahrer die Musik etwas lauter. Er blickte im Rückspiegel zu mir nach hinten und lächelte schief, offenbar wollte er sehen, ob ich ein Problem mit der Lautstärke hätte.

"Vivaldis Doppelkonzert", rief er über die Musik und nickte. Er schien auf meine Reaktion zu warten.

Aber für mich klingt klassische Musik immer gleich, wie jede Musikgattung immer gleich klingt. Außerdem hatte ich noch nicht herausgefunden, wie die Regentropfen über die Fensterscheibe zogen. Flossen sie?

„Das höre ich am liebsten bei der Arbeit. Taxi und Vivaldi, das ist das Beste. Ha!“ Ich sah, wie er mir über den Rückspiegel erwartungsvoll zulächelte.

Mir war nicht gerade nach lächeln.

"Die meisten kennen ja nur die vier Jahreszeiten."

Ich nickte abwesend.

"Kennen Sie die vier Jahreszeiten?"

"Jahreszeiten?"

"Ja, von Vivaldi. Die vier Jahreszeiten. Das kennen die meisten, aber Vivaldi hat noch viel mehr komponiert. Wie eben das Doppelkonzert."

Ich beschloss, froh darüber zu sein, von diesen verdammten Regentropfen abgelenkt zu werden.

"Nein, ich muss gestehen, ich habe es mit klassischer Musik nicht so."

"Oh, das ist ein Fehler."

Das Taxi war im Stau des späten Feierabends zum Stehen gekommen, was es dem Fahrer ermöglichte, ohne bedenkliches Risiko das Handschuhfach zu öffnen und darin nach etwas zu suchen.

Er kramte eine CD hervor und reichte sie mir nach hinten.

"Das mag ich am liebsten: Das Konzert für zwei Hörner."

Ich betrachtete artig die CD, auf der zwei sauber gekleidete Musiker in die Kamera grinsten und reichte sie ihm zurück: "Entschuldigen Sie, wenn ich das so offen ... also ich will Sie damit nicht beleidigen, aber es ist schon irgendwie ungewöhnlich: Ein Taxifahrer, der sich mit klassischer Musik auskennt?"

Der Fahrer lachte, aber dann musste er weiterfahren.

Ich versuchte, ihn durch den Rückspiegel genauer zu betrachten. Taxifahrer sind sonst Menschen, die ich nicht wirklich wahrnehme. Ich steige ein, ich lasse mich fahren, ich bezahle, ich steige aus und wenn das Taxi um die nächste Ecke gebogen ist, habe ich alles, wirklich alles über den Fahrer bereits wieder vergessen.

Oder Fahrerin.

Selbst das weiß ich meist schon nicht mehr.

Mein Fahrer hier war alt. Nicht uralt, vielleicht fünfzig Jahre, wobei sein aufgedunsenes Gesicht einige Falten sicher ungewollt glättete. Vom Rücksitz sah ich nur seinen Kopf mit den grauen, kurzen Haaren und der zerschlissenen Baseballmütze der New York Yankees. Ich seufzte. Leute, die Kappen der Yankees tragen, haben meist keine Ahnung von Baseball.

"Wussten Sie, dass Vivaldi Priester war?"

"Nein."

Wir bogen um eine weite Kurve und mussten dann erneut im Regen und Stau stehen bleiben.

"Was machen Sie denn so?"

Was mache ich denn so?

Wieso hatte ich dieses Gespräch auch begonnen? Wieso hatte ich mich nicht hinter einer Zeitung oder einem Buch verkrochen?

Krochen?

Die Regentropfen krochen über das Glas. Das war doch gar nicht so schlecht.

"Ich bin Schriftsteller."

"Oha, Schriftsteller."

‚Habe ich schon etwas von Ihnen gelesen?‘ Das ist immer die Frage, die jetzt kommt.

"Habe ich schon etwas von Ihnen gelesen?"

Natürlich.

Ich nannte ihm einige Titel meiner Bücher.

Er schlug begeistert auf das glänzende Lederlenkrad.

"Ha! Unglaublich. Die habe ich alle gelesen. Dass ich mal so eine Berühmtheit fahren darf. Wenn ich das meiner Frau heute Abend erzähle."

"Ich glaube nicht, dass ich so berühmt bin."

"Doch, doch ... das ist sicher ein toller Job, oder?“

„Ich weiß nicht.“

„Besonders wenn man so bedeutend ist wie Sie. Also das ist schon ganz unglaublich, dass ich Sie hier in meinem kleinen Taxi habe.“

Ein Fahrradfahrer, dem irgendetwas an unserem Fahrstil nicht zu gefallen schien, kreuzte uns und schimpfte laut. Der Taxifahrer zuckte nur mit den Schultern. Offenbar hatte er keine Ahnung, was das Problem war.

Ich versuchte, mich bequem in die Ledersitze zurückzulehnen.

Ich seufzte nachdenklich: „Vor allem ist es einsam.“

„Einsam?“

„Nun ja, ich sitze vor dem Computer und schreibe, tagein tagaus.“

„Ha, ‚tagein, tagaus‘, großartig, solche tollen Wörter kennen nur Schriftsteller.“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Aber sie sind doch berühmt, vermutlich sind Sie gerade unterwegs zu einer Autogrammstunde, oder?“

„Nein.“

„Wo wollen Sie dann hin?“

„Zum Busbahnhof.“

„Ja, das weiß ich natürlich. Aber von dort?“

Ich kniff die Augen zusammen und strich mir über die Stirn: „Das ist kompliziert. Sagen wir, es ist ein Ort, der mir persönlich wichtig ist. Meine Eltern …“

Ein LKW überholte uns und der Taxifahrer schlug mit einstudierter Wut auf die Hupe.

„LKW Fahrer, die denken, ihnen gehört die Straße.“

Ich schaute auf meine Uhr, aber ich wusste, dass mir die Zeit im Moment völlig gleichgültig war. Es war gleichgültig, ob ich den Bus verpassen würde oder nicht. Eine Stunde später würde der nächste fahren.

Wir standen wieder im Stau und das Heck des LKWs vor uns versperrte mir nun jede Sicht nach vorne.

Die Regentropfen ergießen sich über das Glas.

Nein, auch nicht gut.

„Hören Sie nur Vivaldi?“ Ich hatte keine Lust mehr, über meinen Beruf oder mein Reiseziel zu sprechen.

„Was? Vivaldi? Nein, natürlich nicht. Manchmal auch Bach. Die meisten mögen ja Bach lieber, aber ich nicht. Aber nett ist es schon. Es gibt ja so viel noch. Bach, Beethoven, Mozart. Wer kann das alles hören? CDs sind auch nicht billig. Die jungen Leute hören das ja alles irgendwie auf ihrem Telefon, aber ich kann das nicht. Also bleibe ich bei Vivaldi. Manchmal schenkt mir meine Frau eine neue CD, das höre ich dann auch. Zu meinem Geburtstag hat sie mir eine Eintrittskarte für das Konzerthaus geschenkt. Da war ich noch nie.“

„Ich wusste nicht, dass CDs so teuer sind.“

„Ja, sicher, doch, also für mich. Für einen berühmten Schriftsteller wohl nicht.“ Er lachte wieder und ich versuchte vergeblich, etwas Vorwurfsvolles in diesem Lachen zu finden.

„Alles ist teuer. CDs, Benzin, Tomaten. Wussten Sie, dass Tomaten teuer geworden sind?“

„Nein, das wusste ich nicht.“

Wieder lachte er und zog unsicher an seiner Baseballkappe.

„Entschuldigen Sie: Hier sitzt ein berühmter Schriftsteller und ich erzähle was von Tomaten.“

Ich hob kurz die Hand, um ihm verstehen zu geben, dass das kein Problem sei.

Der Fahrtwind zog am Wasser auf der Scheibe.

Dabei fuhren wir gerade nicht einmal. Da zog nichts.

Der Fahrer schwieg, offenbar war ihm die Sache mit den Tomaten doch peinlich.

Ich beugte mich ein wenig nach vorne, um nicht nur mit seinem Spiegelbild sprechen zu müssen: „Ist das hier eigentlich Ihr Taxi? Besitzen Sie den Wagen?“

„Nein, nein, das Taxi gehört dem Chef, also der Firma vom Chef.“

„Fährt Ihr Chef auch Taxi?“

Er lachte kurz: „Nein, ganz sicher nicht, der sitzt im Warmen.“

Ich nickte verständnisvoll und flüsterte nur noch verschwörerisch: „Sie müssen also für jemanden arbeiten, der sich nicht mit LKWs und Fahrradfahrern abgeben muss, der ganz sicher keine Ahnung hat, wie teuer eine CD oder Tomaten sind, da es ihm egal sein kann, da er genug Geld hat. Aber Sie kümmern sich um diesen Wagen und trotzdem gehört er Ihnen nicht? Alles was Ihnen bleibt ist Vivaldi auf einer alten CD?“

Er zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen.

Ich wartete auf keine Antwort, sondern rutschte noch ein wenig weiter nach vorn: „Würden Sie gerne mehr Geld haben?“

Er zuckte einen Moment zurück, offenbar hatte er so eine Frage nicht erwartet. Dann lachte er unsicher: „Ja, klar, wer möchte das nicht?“

„Ich könnte Ihnen Geld geben. Das wäre kein Problem.“

Ich vermutete, es war gut, dass das Taxi in diesem Moment stand, sonst wären wir womöglich vor das nächste Straßenschild gefahren.

„Warum sollten Sie mir Geld geben?“ Wieder zog er an seiner Kappe.

„Ich möchte Ihnen einfach helfen.“

„Warum wollen Sie mir helfen?“

„Spielt das eine Rolle?“

Ich sah durch den Rückspiegel in sein Gesicht. Offenbar schien er verzweifelt darüber nachzudenken, was das alles solle und welchen perfiden Plan ich hegen könnte, um ihm so ein Angebot zu machen.

Ich versuchte ihn zu beruhigen: „Ich möchte einfach helfen. Glauben Sie mir das?“

Sein Gesicht entspannte sich: „Ja schon, aber …“

Wir mussten weiterfahren. Der anfahrende Wagen warf mich zurück in den Sitz.

Der Fahrer schien froh, dass er sich wieder auf den Verkehr konzentrieren konnte.

„Sie könnten sich ein eigenes Taxi leisten, Sie könnten mir Ihrer Frau ins Konzerthaus gehen. Nicht einmal, sondern jedes Mal.“

Der Regen hatte aufgehört und es flossen kaum noch Tropfen über die Fensterscheibe. Innerhalb weniger Sekunden zogen die Wolken auseinander und die Sonne schien brutal durch die Seitenscheibe.

Ziehen Wolken auseinander?

Kann die Sonne brutal scheinen?

Ich hasste, hasste, hasste es.

„Das hier … Moment! Das ist beste Stelle!“ Der Taxifahrer drehte die Musik wieder lauter. Ich erkannte keinen Unterschied zu dem Gefiedel zuvor, aber ich nickte artig: „Sehr schön, wirklich.“

Wie fuhren weiter und ich wartete, bis die beste Stelle hoffentlich zu Ende war.

Schließlich beugte ich mich erneut nach vorne: „Nun? Es gibt keinen Haken, keine Falle.“

Er stellte die Musik plötzlich aus und ich sah, dass wir den Busbahnhof erreicht hatten.

Er drehte sich zu mir nach hinten und ich sah zum ersten Mal sein vollständiges Gesicht. Ich sah jetzt doch seine Falten und eine winzige Narbe unter dem rechten Auge.

„Ich glaube Ihnen, dass das kein Trick ist und das ist auch furchtbar nett von Ihnen und natürlich könnte ich mehr Geld immer brauchen, allein schon wegen der Tomaten.“ Er lachte, diesmal schien es ihm nicht peinlich zu sein. „Aber ich bleibe lieber bei meinen CDs und dem Taxi. Was soll mir meine Frau sonst schenken, wenn ich schon alles gehört habe?“

Ich seufzte nur.

Dann lachte er erneut: „Ein wenig Geld hätte ich aber doch noch gerne von Ihnen“. Er zeigte auf den Taxameter.

 

„Siehst du die blonde Frau dort drüben? Die jetzt ihren Wagen wäscht?“

„Selbstverständlich.“

„Wie würdest du das Wasser beschreiben, das über die Scheibe fließt?“

„Das Wasser? Beschreiben?“ Zum ersten Mal wirkt Gott erstaunt und er schaut mich direkt an. Er hat langweilige, braune Augen. Irgendwie hatte ich mehr erwartet.

„Beschreiben, ja beschreiben. Du hast den Menschen ein ganzes Buch diktiert, da wirst du doch Wasser beschreiben können. Fließt es, strömt es, zieht es, verrinnt es?“ Ich merke, dass ich ungeduldig werde. Vermutlich, weil ich wirklich nicht weiß, warum ich eigentlich hier bin.

Er wirkt irritiert und für einen Moment freue ich mich, dass ich Gott überraschen konnte.

„Also ich habe ganz sicher nichts diktiert. Dafür sind andere zuständig. Keine Ahnung, wie ich es beschreiben würde.“

Ich nicke bedeutungsvoll: „Ich auch nicht, und genau das ist mein Problem, also eigentlich unser Problem. Sollte ich als Schriftsteller nicht sofort einen ganzen Absatz im Kopf haben, über diese blonde Frau, das kleine Auto, das helle Wasser, vielleicht auch nur über ihr Gesicht oder ihr schulterlanges Haar, das fließt, wie eben das Wasser auf der Scheibe.“

Jetzt grinst er wieder: „Ihre Haare fließen wie das Wasser: Das ist doch schon mal gar nicht schlecht.“

Ich seufze nur: „Unsinn. Es ist platt und langweilig.“

„Warum ist das ein Problem?“

Ich springe von der Bank auf und stelle mich nun direkt vor ihn. Gott ist irgendwie klein.

„Als ob du das nicht wüsstest. Das Problem ist, dass ich mehrere Literaturpreise gewonnen habe, dass meine Bücher allesamt solche Bestseller sind, dass am Ausgang einer Lesung mehr Groupies auf mich warten als auf einen verdammten Rockstar. Und das alles, obwohl ich nicht einmal weiß, wie ich das verdammte Wasser auf einer verdammten Fensterscheibe beschreiben würde. Das ist das verdammte Problem!“

„Oh.“

Weiter sagt er nichts. Scheinbar hat es Gott wirklich nicht so mit Worten.

Ich setze mich wieder auf die Bank und wir betrachten, wie die Blondine in ihrer Jacke nach etwas sucht, es findet und dann in dem kleinen Gebäude verschwindet. Wie kann eine Tankstelle überhaupt abbrennen? Sollte es da nicht eine Millionen Sicherheitsvorkehrungen geben? Ventile? Schrauben? Schläuche? Computer?

Ich stelle fest, dass ich auch von Tankstellen überhaupt keine Ahnung habe.

„Weiß Gott, was ein Groupie ist?“

„Natürlich.“

„Richtig, du weißt ja alles.“

„Manchmal.“

„Oh, guter Gott!“

„Ja?“

Er lacht über seinen eigenen Witz und verhakt zufrieden seine Daumen hinter den Trägern seiner Latzhose.

Ich seufze. Mal wieder. „Möchtest du ein Bier? Ich glaube, ich brauche jetzt eins.“

 

 

Es beruhigte mich, dass der Bus noch fast leer war. Nur vorne saß eine Frau mit ihrem Kind, aber beide schliefen bereits oder versuchten es zumindest.

Ich ging leise ganz nach hinten und setzte mich in die letzte Reihe.

Ich versuchte nach draußen zu schauen, aber da war es noch dunkel und das dreckig gelbe Licht im Bus machte es unmöglich, etwas zu erkennen. Ich wusste nicht, wann ich zuletzt so lange wach geblieben war, um die Sonne aufgehen zu sehen.

Für eine Sekunde überlegte ich, wie ich das Licht, das sich in den zerkratzen Scheiben spiegelte, beschreiben müsste, aber dann schloss ich die Augen und versuchte an etwas anderes zu denken.

Ich hatte keine Ahnung, wie lange der Bus hier noch warten würde.

Ich hörte das Zischen der Bustür, aber beschloss, die Augen nicht zu öffnen. Der Bus war fast komplett leer und die angeborene Abscheu vor fremden Menschen würde dafür sorgen, dass sich erst alle anderen Reihen füllen würden. Mein Glück.

Aber diesmal leider nicht. Ich spürte, wie sich jemand an meine Seite setzte. Ich zuckte erschreckt zur Seite. Neben mir saß eine dürre, junge Frau, die eine schwarze, unglaublich breite und dünne Tasche wie einen seltsamen Schild vor sich hielt. Sie trug eine große, runde Brille und blickte mich dahinter grinsend an.

„Hinten sind die Überlebenschancen am größten.“

„Wie bitte?“

Sie schob ihre Brille zurück: „Ich habe mich informiert: Bei einem Unfall in einem Bus sind die Überlebenschancen am größten, wenn man in der letzten Reihe sitzt.“

„Es sei denn, es kracht ein tonnenschwerer Zementlaster von hinten in uns hinein.“

Für einen Moment wirkte sie verwirrt und schien nachzudenken.

„Oh. Ja. Vielleicht. Aber ich sehe hier nirgends einen Zementlaster.“

„Es war auch nur ein Scherz.“ Ich schloss die Augen wieder und entschied, die gute Frau zu ignorieren.

Leider wollte sie mich nicht ignorieren.

„Ich habe das nur gesagt, damit Sie nicht denken, ich wolle etwas von Ihnen.“

Ich öffnete die Augen wieder: „Wieso sollte ich so etwas denken?“

„Nun ja, der ganze Bus ist leer und ich setzte mich so einfach neben Sie.“

Sie lächelte wieder unsicher.

Ich versuchte auch zu lächeln: „Kein Problem.“

Natürlich war das eine Lüge.

Sie drückte die eigenartige Tasche noch näher zu sich heran: „Bitte entschuldigen Sie. Ich bin nur etwas nervös. Meinen Bildern darf nichts zustoßen.“

„Bildern?“

Sie nickte in Richtung der Tasche: „Hier. Meine Arbeit. Ich bringe sie zu einem Verlag. Persönlich.“

Sie nickte noch einmal, als sei damit alles gesagt.

Ich versuchte zu schätzen, wie alt sie war. Leider war ich darin schon immer ziemlich schlecht. Mitte zwanzig? Aber vielleicht ließen die wilden, roten Locken sie auch nur jünger erscheinen, als sie es tatsächlich war.

Ich seufzte, da ich bereits wusste, dass ich es bereuen würde: „Also… es geht mich natürlich gar nichts an, aber warum verschicken Sie die Bilder nicht einfach als Paket?“

Sie riss die Augen auf: „Nein, nein. Das … das geht nicht. Also, es geht natürlich schon. Aber, nein, nein, das ist schon mal furchtbar schief gegangen.“

In dem Moment startete der Fahrer den Bus und ein dumpfes Ruckeln fuhr durch den gesamten Wagen. Das Licht erlosch und mit einem Mal konnten wir draußen den leeren Busbahnhof sehen.

Ich war froh, dass unser Gespräch unterbrochen worden war und ich jetzt einfach die Augen wieder würde schließen können.

Aber natürlich passierte nichts dergleichen.

„Wollen Sie mich gar nicht fragen?“

„Fragen? Was?“

„Nun, ich habe gesagt, dass es schon einmal furchtbar schiefgelaufen ist. Müssten Sie nicht fragen, was schiefgelaufen ist?“

„Müsste ich?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht. Also ich denke schon.“

Der Bus verließ langsam den Busbahnhof. Ich muss gestehen, dass ich bis zu diesem Tag noch nie länger als zehn Minuten in einem Bus gesessen hatte, schon gar nicht in einem Fernbus und auch die Existenz von Busbahnhöfen war mir bis vor kurzem gänzlich unbekannt gewesen. Mit einem Blick nach draußen stellte ich fest, dass dies auch kein Verlust gewesen war.

„Also gut: Was ist damals passiert?“

Sie holte tief Luft und ich wurde mir bewusst, dass sie die nun folgende Geschichte ohne Frage schon unzählige Male zum Besten gegeben hatte.

Zum Besten geben … was für eine abgedroschene Phrase.

„Ich war eingeschrieben. Für die Kunsthochschule. Ich hatte es tatsächlich geschafft. Ich hatte eine Mappe, so wie diese.“

Richtig, so etwas nennt man natürlich ‚Mappe‘ und nicht Tasche.

„Sie war aber voller. Also voll mit allen meinen Bildern, den besten Bildern aus vielen Jahren.“

Ich schaute mich um, ob sonst noch jemand beschlossen hatte, dieser Geschichte zu folgen, aber außer der Mutter mit Kind war niemand da und ich fragte mich, ob Busse gewöhnlich eigentlich immer so schrecklich leer waren.

„Also schickte ich meine Mappe an die Hochschule, was sollte schon schiefgehen, nicht wahr?“

Ich zuckte artig stumm mit den Schultern.

„Ha, ja, was sollte schon schief gehen? Ich sage Ihnen, was schief gegangen ist: Die Mappe ist verbrannt!“

„Verbrannt?“

Warum ausgerechnet verbrannt?

„In einem verdammten Postauto. Wer hat so etwas schon mal gehört? Seit wann brennen Autos? Das gibt es doch sonst nur in schlechten Kinofilmen.“

„Wie brennende Tankstellen.“

Hatte ich das laut gesagt?

„Wie bitte?“

Offenbar hatte ich es laut gesagt.

„Ich habe auch etwas durch einen Brand verloren.“

Die Frau schien verunsichert.

„Oh. Gut. Also natürlich nicht gut.“

„Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen. Ihre Bilder sind in diesem Postauto verbrannt?“

Die Frau fuhr sich irritiert durch die roten Locken.

„Genau. Richtig. Auf jeden Fall habe ich mir damals geschworen, nie wieder etwas mit der Post zu verschicken. Ha!“

Der Bus hielt an einer Haltestelle und drei lachende Teenager stiegen ein. Offenbar wollten sie auch in der letzten Reihe sitzen, denn nachdem sie feststellen mussten, dass diese schon besetzt war, suchten sie irritiert und frustriert nach einer Alternative.

„Konnten Sie trotzdem an der Hochschule studieren?“

Warum fragte ich nach?

Die Frau mit den roten Haaren zog die Mappe wieder wie ein Stofftier an sich heran: „Nein, natürlich nicht. Keine Mappe, keine Bilder. Keine Bilder, kein Studium. Nein.“

„Das tut mir leid.“

‚Tut‘ ist ein schwaches Verb. Ich fluchte innerlich.

Durften Teenager ohne Eltern eigentlich so einfach mit einem Fernbus durch die Welt reisen?

„Was ist bei Ihnen verbrannt?“

Die Frau hatte ihre Brille abgenommen und säuberte sie. Sie hatte plötzlich unfassbar große Augen.

Eigentlich wollte ich ihr nichts davon erzählen, aber ich hatte irgendwie das Gefühl, es ihr zu schulden.

„Das ist … kompliziert. Meine Eltern.“

Sie riss die Augen auf und hielt wie in einem schlechten Film erschrocken die Hand vor den Mund. Dann setzte sie die Brille wieder auf.

Ich stellte fest, dass ich wirklich nicht darüber reden wollte. Die Teenager schauten auch schon neugierig zu uns herüber.

„Das ist schrecklich. Deswegen habe ich überall Rauchmelder in meiner Wohnung.“

„Es war in einer Tankstelle.“

„Oh.“

Sie blickte nachdenklich aus dem Fenster, wo der Morgen das Grau der Nacht langsam mit blassen Farben auswusch.

Der Satz war gar nicht so schlecht, das sollte ich mir merken.

Plötzlich kam einer der Teenager zu uns nach hinten. Eine dürrer Junge mit einer unpassenden Wollmütze auf dem Kopf.

Er wirkte unsicher und zupfte nervös an seinem grellen Hemd.

„Entschuldigen Sie, eigentlich mache ich so etwas nicht, aber … aber sind Sie nicht dieser berühmte Schriftsteller?“

Nein, nein, nein, nicht jetzt.

Ich nickte nur und versuchte, höflich zu grinsen.

Der Junge lachte breit und drehte sich zu seinen Freunden: „Ich habe es Euch doch gesagt. Ich hatte recht.“

Ohne ein weiteres Wort hangelte er sich zurück durch den Bus.

Ich blickte zu der Frau neben mir. Ich wusste, was jetzt kommen würde.

Aber es kam nicht.

Sie schien angestrengt nachzudenken und schwieg.

Zunächst.

Schließlich wandte sie sich doch mit einem ratlosen Gesicht zu mir: „Warum fahren Sie dann mit dem Bus?“

„Wie bitte?“

„Nun ja: Wenn Sie tatsächlich so ein berühmter Schriftsteller sind, warum fahren Sie dann mit dem Bus? Warum nicht mit dem Flugzeug? Oder einer Limousine? Oder vielleicht ein Hubschrauber?“

Ich musste grinsen: „Ich glaube kaum, dass jemals ein Schriftsteller mit einem Hubschrauber irgendwohin …“

„Das war ja auch nur ein Beispiel.“

Jetzt blickte ich nachdenklich nach draußen. Aber da war nur der verzerrte Fahrbahnrand und graue Büsche, die eilig vorbeizogen. Geisterhaft sah ich mein eigenes Gesicht in der Fensterscheibe.

„Ich fahre zu dieser Tankstelle.“

Das Wort ‚Tankstelle‘ klang furchtbar unwichtig.

„Also an den Ort von damals. Ich … ich weiß auch nicht. Irgendwie fühlt es sich richtig an, mit dem Bus zu fahren. Wir sind damals immer mit dem Bus gefahren.“

Die Frau nickte nur mit ernstem Gesicht und eine rote Locke fiel ihr ins Gesicht.

Sie erschien mir wie ein kleines Kind, das begriff, dass etwas sehr ernst war, ohne jedoch wirklich zu verstehen, worum es eigentlich ging.

Wir fuhren schweigend weiter, während es draußen langsam Morgen wurde.

Die Teenager hatten den Bus längst verlassen.

Mir war langweilig.

„Was wird passieren, wenn der Verlag ihre Bilder mag?“

Die Frau wirkte nicht überrascht, dass ich sie plötzlich wieder ansprach.

„Ich weiß es nicht.“

„Sie wissen es nicht?“

„Nein. Bisher ist es ja nicht passiert.“ Sie lachte unsicher.

Bisher?

„Wie oft sind Sie schon mit dem Bus gefahren?“

„Mit dem Bus?“

„Mit Ihrer Mappe.“

Sie schien nicht nachdenken zu müssen: „Siebenundzwanzigmal.“

„Siebenundzwanzig? Sie haben wieder und wieder jemanden Ihre Bilder gezeigt? Siebenundzwanzigmal haben Sie jemandem diese Mappe in die Hand gedrückt und siebenundzwanzigmal wurden Sie abgelehnt und trotzdem fahren Sie immer weiter? Mit dem Bus. Zu einem Verlag. Oder einer Agentur, oder … vermutlich will niemand etwas mit Ihnen zu tun haben, da Sie keinen Abschluss haben und Sie haben keinen Abschluss da Ihre Mappe damals verbrannt ist?“

Sie blickte jetzt starr nach vorne durch den Gang. Ich wollte nicht wirklich sehen, ob sie tatsächlich weinte.

„Hören Sie“, ich berührte sie kurz am Ärmel und sie zuckte zurück. „Hören Sie, ich bin tatsächlich ein berühmter Schriftsteller. Und berühmte Schriftsteller kennen andere, berühmte Künstler. Nicht nur andere Schriftsteller. Das wäre schrecklich langweilig“ Ich grinste schräg. „Ich kenne eine Galeristin. Sie wissen schon: Jemand der Bilder aufhängt, so dass andere sie sehen können. Glauben Sie mir: Es ist überall das gleiche: Es geht nicht darum, ob man gut oder schlecht ist, es geht darum, ob man gesehen wird oder nicht.“

Ich schwieg einen Moment für eine dramatische Pause.

„Ich könnte Sie dort vorstellen. Ihre Bilder könnten ausgestellt werden. Ganz sicher.“

Ich sah, wie sich ihre Augen weiteten.

Dann aber drückte sie ihre Mappe wieder an sich und blickte sich unsicher im Bus um, als würde sie erwarten, dass gleich jemand mit einer Fernsehkamera aus einem der Gepäckfächer springen würde.

„Warum sollten Sie so etwas tun?“

Ich war erleichtert, dass auch andere Menschen schwache Verben benutzen.

„Wir teilen ein gemeinsames Schicksal. Wir beide haben etwas wertvolles verloren.“

Sie schien nicht überzeugt und schüttelte nur stumm den Kopf.

„Spielt es eine Rolle? Ich möchte nur helfen. Sie hatten Pech in Ihrem Leben und ich möchte helfen, dass es wieder ausgeglichen wird.“

„Ausgeglichen?“

Ich war mir nicht sicher, ob sie mich oder ich sie nicht verstand.

„Sie könnten berühmt werden. Es wäre das Ziel Ihrer Träume.“

„Das Ziel? Aber dann wäre es doch vorbei, nicht wahr?“

„Vorbei?“

„Warum sollte ich dann noch malen?“

Jetzt war ich mir sicher, dass ich es war, der nichts verstand.

Plötzlich lächelte sie und zeigt nach draußen: „Sehen Sie! Da ist eine Tankstelle. Müssen Sie hier schon aussteigen?“

Jetzt zuckte ich zusammen.

Wir hatten tatsächlich bereits mein Ziel erreicht.

Der Bus hielt direkt gegenüber einer langweiligen Tankstelle. Niemand war dort. Nur da drüben saß ein alter Mann auf einer alten Bank.

 

 

Gott wird ungeduldig: „Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum du hier bist.“

„Ich weiß es wirklich nicht. Nicht so richtig. Ich glaube … ich glaube einfach, dass hier alles begonnen hat. Hier, an dieser verdammten Tankstelle. Also nicht der neuen Tankstelle jetzt, sondern an der, die in die Luft geflogen ist. Damals.“

Gott sagt nichts.

Wie ein Therapeut, der einfach nur zuhört.

Ich hasse das.

„So etwas passiert doch nur in schlechten Filmen, oder? Ich wusste nicht mal, dass Tankstellen tatsächlich in die Luft fliegen können. Aber … eigentlich ist es auch egal. Aber ich bin mir sicher, dass es damals begonnen hat.“

„Was hat begonnen?“

Ich merke, wie sich meine Hände zu Fäusten ballen: „Ach bitte, das weiß du ganz genau. Die Auszeichnungen. Die Erfolge. Nachdem meine Eltern hier auf diese absurde Art krepiert sind. Zuerst habe ich mir nichts dabei gedacht. Zuerst habe ich natürlich geglaubt, dass ich wirklich ein hochbegabter Schriftsteller wäre, der zuvor einfach nur Pech gehabt hatte. Aber das ist natürlich totaler Quatsch. Wir beide wissen, dass ich ein lausiger Schriftsteller bin, sonst würde ich wohl kaum Wörter wie ‚Quatsch‘ benutzen.“

Gott schaut verträumt in den Himmel: „Ich mag ‚Quatsch‘.“

Ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass ich Gott am liebsten eine Ohrfeige verpassen möchte, aber ich bin mir sicher, dass es keine gute Idee wäre, ausgerechnet Gott so zu verärgern.

Also brülle ich nur: „Du hast mir geholfen. Seit damals. Seit hier. Seitdem hier alles in die Luft geflogen ist. Warum? Hattest du ein schlechtes Gewissen?“

Endlich.

Ich sehe, wie sich die struppigen Augenbrauen zusammenziehen. Er ist jetzt sehr ernst.

„Nein.“

„Was dann?“

„Ich weiß es nicht.“

„Das ist gelogen.“

Plötzlich lacht Gott und klatscht in die Hände: „ Sehr gut, also weißt du auch alles?“

„Manchmal.“

Die Blondine kommt zurück und steht eine Weile kritisch vor ihrem eigenen Wagen. Erst jetzt sehe ich, dass auf dem Beifahrersitz ein bulliger Mann hockt. Das Wasser ist inzwischen von den Scheiben geflossen. Geflüchtet?

Gott faltet nachdenklich die Hände. Zu wem würde Gott wohl beten? „Ich glaube, ich wollte es einfach allen beweisen.“

„Was zum Teufel muss Gott beweisen?“

Leider ignoriert er mein Wortspiel.

„Jedes Mal, wirklich jedes Mal, wenn etwas Schreckliches in der Welt passiert ist, jammern die Menschen: Wie konnte Gott das zulassen? Wie konnte er erlauben, dass das geschieht? Warum hat Gott nicht geholfen? Blablabla! Jedes Mal. Du hast dir damals sicher auch diese alberne Frage gestellt.“

„Natürlich.“

„Natürlich. Es sollte einfach einmal anders sein. Ich wollte helfen. Immerhin … ich … ich bin doch Gott.“

Die blonde Frau ist in ihr Auto gestiegen und offenbar streitet sie sich mit ihrem Beifahrer.

„Gott?“

„Ja?“

„Lass uns damit aufhören!“

Gott zupft unsicher an seinem Bart.

Das kleine Auto verlässt die Tankstelle.

„Einverstanden.“

Gott starrt auf den Asphalt. Dann dreht er sich zu mir.

„Jetzt wäre ein Bier echt nicht schlecht.“

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